Was Rainer Maria Rilke über Kiew und die Ukraine zu sagen wusste …

Ein Lese- und Hörtipp für unsere Tage im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Krieg. Es ist für mich überraschend, wie erhellend Rilkes Ausführungen zu Kiew sind.

Den Text kann man auch bei LibreVox anhören, sehr gut gelesen von Hokuspokus!

Ein Kapitel aus

“Geschichten vom lieben Gott”

von Rainer Maria Rillke. Erstveröffentlichung unter dem Titel “Der liebe Gott und Anderes” (1900). Hier nach der Edition im Insel Verlag 1921.

Quelle: Project Gutenberg

https://www.gutenberg.org/files/38402/38402-h/38402-h.htm


DAS LIED VON DER GERECHTIGKEIT

Als ich das nächste Mal an Ewalds Fenster
vorüberkam, winkte er mir und lächelte: »Haben Sie den Kindern
etwas Bestimmtes versprochen?« »Wieso?« staunte ich. »Nun, als
ich ihnen die Geschichte von Jegor erzählt hatte, beklagten sie
sich, daß Gott in derselben nicht vorkäme.« Ich erschrak: »Was,
eine Geschichte ohne Gott, aber wie ist denn das möglich?« Dann
besann ich mich: »In der Tat, es ist wahr, von Gott sagt die
Geschichte, wie ich sie mir jetzt überdenke, nichts. Ich begreife
nicht, wie das geschehen konnte; hätte jemand von mir eine solche
verlangt, ich glaube, ich hätte mein ganzes Leben nachgedacht, ohne
Erfolg …«

Mein Freund lächelte über diesen Eifer:
»Sie müssen sich deshalb nicht erregen,« unterbrach er mich mit
einer gewissen Güte, »ich denke mir, man kann ja nie wissen, ob
Gott in einer Geschichte ist, ehe man sie auch ganz beendet hat. Denn
wenn auch nur noch zwei Worte fehlen sollten, ja selbst, wenn nur
noch die Pause hinter dem letzten Worte der Erzählung aussteht: Er
kann immer noch kommen.« Ich nickte, und der Lahme sagte in anderem
Ton: »Wissen Sie nicht noch etwas von diesen russischen Sängern?«

Ich zögerte: »Ja, wollen wir nicht lieber
von Gott reden, Ewald?« Er schüttelte den Kopf: »Ich wünsche mir
so, mehr von diesen eigentümlichen Männern zu vernehmen. Ich weiß
nicht, wie es kommt, ich denke mir immer, wenn so einer hier bei mir
einträte –« und er wandte den Kopf ins Zimmer nach der Türe
zu. Aber seine Augen kehrten schnell und nicht ohne Verlegenheit zu
mir zurück – »Doch das ist ja wohl nicht möglich,« verbesserte
er eilig. »Warum sollte das nicht möglich sein, Ewald? Ihnen kann
manches begegnen, was den Menschen, die ihre Beine brauchen können,
verwehrt bleibt, weil sie an so vielem vorübergehen und vor so
manchem davonlaufen. Gott hat Sie, Ewald, dazu bestimmt, ein ruhiger
Punkt zu sein mitten in aller Hast. Fühlen Sie nicht, wie alles sich
um Sie bewegt? Die anderen jagen den Tagen nach, und wenn sie mal
einen erreicht haben, sind sie so atemlos, daß sie gar nicht mit ihm
sprechen können. Sie aber, mein Freund, sitzen einfach an Ihrem
Fenster und warten; und den Wartenden geschieht immer etwas. Sie
haben ein ganz besonderes Los. Denken Sie, sogar die Iberische
Madonna in Moskau muß aus ihrem Kapellchen heraus und fährt in
einem schwarzen Wagen mit vier Pferden zu denen, die irgend etwas
feiern, sei es die Taufe oder den Tod. Zu Ihnen aber muß alles
kommen –«

»Ja,« sagte Ewald
mit einem fremden Lächeln, »ich kann sogar dem Tod nicht
entgegengehen. Viele Menschen finden ihn unterwegs. Er scheut sich,
ihre Häuser zu betreten, und ruft sie hinaus in die Fremde, in den
Krieg, auf einen steilen Turm, auf eine schwankende Brücke, in eine
Wildnis oder in den Wahnsinn. Die meisten holen ihn wenigstens
draußen irgendwo ab und tragen ihn dann auf ihren Schultern nach
Hause, ohne es zu merken. Denn der Tod ist träge; wenn die Menschen
ihn nicht fortwährend stören würden, wer weiß, er schliefe
vielleicht ein.« Der Kranke dachte eine Weile nach und fuhr dann mit
einem gewissen Stolz fort: »Aber zu mir wird er kommen müssen, wenn
er mich will. Hier in meine kleine helle Stube, in der die Blumen
sich so lange halten, über diesen alten Teppich, an diesem Schrank
vorbei, zwischen Tisch und Bettende durch (es ist gar nicht leicht,
vorüberzukommen) bis her an meinen breiten, lieben, alten Stuhl, der
dann wahrscheinlich mit mir sterben wird, weil er sozusagen mit mir
gelebt hat. Und er wird dies alles tun müssen in der üblichen Art,
ohne Lärm, ohne etwas umzuwerfen, ohne etwas Ungewöhnliches zu
beginnen, wie ein Besuch. Dieser Umstand bringt mir meine Stube
merkwürdig nah. Es wird sich alles hier abspielen auf dieser engen
Szene, und darum wird auch dieser letzte Vorgang sich nicht sehr von
allen anderen Ereignissen unterscheiden, welche sich hier begeben
haben und noch bevorstehen. Es hat mir immer schon als Kind seltsam
geschienen, daß die Menschen vom Tode anders sprechen als von allen
anderen Begebenheiten, und das nur deshalb, weil jeder von dem, was
ihm nachher geschieht, nichts mehr verrät. Wodurch aber
unterscheidet sich denn ein Toter von einem Menschen, welcher ernst
wird, auf die Zeit verzichtet und sich einschließt, um über etwas
ruhig nachzudenken, dessen Lösung ihn lange schon quält? Unter den
Leuten kann man sich doch nicht einmal des Vaterunsers erinnern, wie
denn erst irgendeines anderen dunkleren Zusammenhanges, der
vielleicht nicht in Worten, sondern in Ereignissen besteht. Man muß
abseits gehen in irgendeine unzugängliche Stille, und vielleicht
sind die Toten solche, die sich zurückgezogen haben, um über das
Leben nachzudenken.«

Es entstand eine kleine Schweigsamkeit, die
ich mit folgenden Worten begrenzte: »Ich muß dabei an ein junges
Mädchen denken. Man kann sagen, daß sie in den ersten siebzehn
Jahren ihres heiteren Lebens nur geschaut hat. Ihre Augen waren so
groß und so selbständig, daß sie alles, was sie empfingen, selbst
verbrauchten, und das Leben in dem ganzen Körper des jungen
Geschöpfes ging, unabhängig davon, von schlichten, inneren
Geräuschen genährt, vor sich. Am Ende dieser Zeit aber störte
irgendein zu heftiges Ereignis dieses doppelte, kaum sich berührende
Leben, die Augen brachen gleichsam nach innen durch, und die ganze
Schwere des Äußeren fiel durch sie in das dunkle Herz hinein, und
jeder Tag stürzte mit solcher Wucht in die tiefen, steilen Blicke,
daß er in der engen Brust zersprang wie ein Glas. Da wurde das junge
Mädchen blaß, begann zu kränkeln, einsam zu werden, nachzudenken,
und endlich suchte es selbst jene Stille auf, darin die Gedanken
wahrscheinlich nicht mehr gestört werden.«

»Wie ist sie gestorben?« fragte mein Freund leise, mit etwas
heiserer Stimme. »Sie ist ertrunken. In einem tiefen, stillen Teich,
und an der Oberfläche desselben entstanden viele Ringe, die langsam
weit wurden und unter den weißen Wasserrosen hin wuchsen, so daß
alle diese badenden Blüten sich bewegten.«

»Ist das auch eine Geschichte?« sagte
Ewald, um die Stille hinter meinen Worten nicht mächtig werden zu
lassen. »Nein,« entgegnete ich, »das ist ein Gefühl.« »Aber
könnte man es nicht auch den Kindern übermitteln – dieses
Gefühl?« Ich überlegte. »Vielleicht –« »Und wodurch?«
»Durch eine andere Geschichte.« Und ich erzählte:

»Es war zur Zeit, als man im südlichen Rußland um die Freiheit
kämpfte.«

»Verzeihen Sie,« sagte Ewald, »wie ist das zu verstehen –
wollte sich das Volk etwa vom Zaren losmachen? Das würde nicht zu
dem passen, was ich mir von Rußland denke, und auch mit Ihren
früheren Erzählungen in Widerspruch stehen. In diesem Falle würde
ich vorziehen, Ihre Geschichte nicht zu hören. Denn ich liebe das
Bild, welches ich mir von den Dingen dort gemacht habe, und will es
unbeschädigt behalten.«

Ich
mußte lächeln und beruhigte ihn: »Die polnischen Pans (ich hätte
das vorausschicken müssen) waren Herren im südlichen Rußland und
in jenen stillen, einsamen Steppen, welche man mit dem Namen Ukraine
bezeichnet. Sie waren harte Herren. Ihre Bedrückung und die Habgier
der Juden, welche sogar den Kirchenschlüssel in Händen hatten, den
sie nur gegen Bezahlung den Rechtgläubigen auslieferten, hatte das
jugendliche Volk um Kiew herum und den ganzen Dnjepr aufwärts müde
und nachdenklich gemacht. Die Stadt selbst, Kiew, das heilige, der
Ort, wo Rußland zuerst mit vierhundert Kirchenkuppeln von sich
erzählte, versank immer mehr in sich selbst und verzehrte sich in
Bränden wie in plötzlichen, irren Gedanken, hinter denen die Nacht
nur immer uferloser wird. Das Volk in der Steppe wußte nicht recht,
was geschah. Aber von seltsamer Unruhe erfaßt, traten die Greise
nachts aus den Hütten und betrachteten schweigend den hohen, ewig
windlosen Himmel, und am Tage konnte man Gestalten auf dem Rücken
der Kurgane auftauchen sehen, die sich wartend vor der flachen Ferne
erhoben. Diese Kurgane sind Grabstätten vergangener Geschlechter,
die die ganze Heide wie ein erstarrter, schlafender Wellenschlag
durchziehen. Und in diesem Land, in welchem die Gräber die Berge
sind, sind die Menschen die Abgründe. Tief, dunkel, schweigsam ist
die Bevölkerung, und ihre Worte sind nur schwache, schwankende
Brücken über ihrem wirklichen Sein. – Manchmal heben sich dunkle
Vögel von den Kurganen. Manchmal stürzen wilde Lieder in die
dämmernden Menschen hinein und verschwinden in ihnen tief, während
die Vögel im Himmel verloren gehen. Nach allen Richtungen hin
scheint alles grenzenlos. Die Häuser selbst können nicht beschützen
vor dieser Unermeßlichkeit; ihre kleinen Fenster sind voll davon.
Nur in den dunkelnden Ecken der Stuben stehen die alten Ikone, wie
Meilensteine Gottes, und der Glanz von einem kleinen Licht geht durch
ihre Rahmen, wie ein verirrtes Kind durch die Sternennacht. Diese
Ikone sind der einzige Halt, das einzige zuverlässige Zeichen am
Wege, und kein Haus kann ohne sie bestehen. Immer wieder werden
welche notwendig; wenn eines zerbricht vor Alter und Wurm, wenn
jemand heiratet und sich eine Hütte zimmert, oder wenn einer, wie
zum Beispiel der alte Abraham, stirbt mit dem Wunsch, den heiligen
Nikolaus, den Wundertäter, in den gefalteten Händen mitzunehmen,
wahrscheinlich, um die Heiligen im Himmel mit diesem Bilde zu
vergleichen und den besonders Verehrten vor allen anderen zu
erkennen.

So kommt es, daß
Peter Akimowitsch, eigentlich Schuster von Beruf, auch Ikone malt.
Wenn er von der einen Arbeit müde ist, geht er, nachdem er sich
dreimal bekreuzt hat, zu der anderen über, und über seinem Nähen
und Hämmern wie über seinem Malen waltet die gleiche Frömmigkeit.
Jetzt ist er schon ein alter Mann, aber doch ziemlich rüstig. Den
Rücken, den er über die Stiefel biegt, richtet er vor den Bildern
wieder gerade, und so hat er sich eine gute Haltung bewahrt und ein
gewisses Gleichgewicht in den Schultern und im Kreuz. Den größten
Teil seines Lebens hat er ganz allein verbracht, sich gar nicht
hineinmischend in die Unruhe, die dadurch entstand, daß sein Weib
Akulina ihm Kinder gebar und daß diese verstarben oder sich
verheirateten. Erst in seinem siebzigsten Jahre hatte Peter sich mit
denen in Verbindung gesetzt, die in seinem Hause verblieben waren und
die er nun erst als wirklich vorhanden betrachtete. Das waren:
Akulina, sein Weib, eine stille, demütige Person, die sich fast ganz
in den Kindern fortgegeben hatte, eine alternde, häßliche Tochter
und Aljoscha, ein Sohn, welcher, unverhältnismäßig spät geboren,
erst siebzehn Jahre zählte. Diesen wollte Peter für die Malerei
heranbilden; denn er sah ein, daß er bald nicht allen Bestellungen
würde entsprechen können. Aber er gab den Unterricht bald auf.
Aljoscha hatte die allerheiligste Jungfrau gemalt, aber das strenge
und richtige Vorbild so wenig erreicht, daß sein Machwerk aussah wie
ein Bild der Mariana, der Tochter des Kosaken Golokopytenko, also wie
etwas durchaus Sündiges, und der alte Peter beeilte sich, nachdem er
sich oft bekreuzt hatte, das beleidigte Brett mit einem heiligen
Dmitrij zu übermalen, welchen er aus einem unbekannten Grunde über
alle anderen Heiligen stellte.


Aljoscha versuchte auch nie mehr ein Bild zu beginnen. Wenn ihm der
Vater nicht befahl, einen Nimbus zu vergolden, war er meistens
draußen in der Steppe, kein Mensch wußte wo. Niemand hielt ihn zu
Hause. Die Mutter wunderte sich über ihn und hatte eine Scheu, mit
ihm zu reden, als ob er ein Fremder wäre oder ein Beamter. Die
Schwester hatte ihn geschlagen, solang er ein Kind war, und jetzt,
seit Aljoscha erwachsen war, begann sie ihn zu verachten, dafür, daß
er sie nicht schlug. Aber auch im Dorfe war niemand, der sich um den
Burschen kümmerte. Mariana, die Kosakentochter, hatte ihn
ausgelacht, als er ihr erklärte, er wolle sie heiraten, und die
anderen Mädchen hatte Aljoscha nicht danach gefragt, ob sie ihn als
Bräutigam annehmen möchten. In die Ssetsch, zu den Zaporogern,
hatte ihn keiner mitnehmen wollen, weil er allen zu schwächlich
schien und vielleicht auch noch etwas zu jung. Einmal war er schon
davongelaufen bis zum nächsten Kloster, aber die Mönche nahmen ihn
nicht auf – und so blieb nur die Heide für ihn, die weite, wogende
Heide. Ein Jäger hatte ihm einmal ein altes Gewehr geschenkt, das
weiß Gott womit geladen war. Das schleppte Aljoscha immer mit, schoß
es aber niemals ab, erstens, weil er den Schuß sparen wollte, und
dann, weil er nicht wußte wofür. An einem lauen, stillen Abend, zu
Anfang des Sommers, saßen alle beisammen an dem groben Tisch, auf
welchem eine Schüssel mit Grütze stand. Peter aß, und die anderen
schauten ihm zu und warteten auf das, was er übriglassen würde.
Plötzlich ließ der Alte den Löffel in der Luft stehen und streckte
den breiten welken Kopf in den Lichtstreifen, der von der Tür kam
und quer über den Tisch in die Dämmerung lief. Alle horchten. Es
war außen an den Wänden der Hütte ein Geräusch, wie wenn ein
Nachtvogel mit seinen Flügeln sachte die Balken streifte; aber die
Sonne war kaum untergegangen, und die nächtlichen Vögel kamen ja
überhaupt selten bis ins Dorf. Und da war es wieder, als tappe
irgendein anderes großes Tier ums Haus und als wäre von allen
Wänden zugleich sein suchender Schritt vernehmbar. Aljoscha erhob
sich leise von seiner Bank, in demselben Augenblick verdunkelte sich
die Tür von etwas Hohem, Schwarzem; es verdrängte den ganzen Abend,
brachte Nacht in die Hütte und bewegte sich in seiner Größe nur
unsicher vorwärts. ›Der Ostap!‹ sagte die Häßliche mit ihrer
bösen Stimme. Und jetzt erkannten ihn alle. Es war einer von den
blinden Kobzars, ein Greis, der mit einer zwölfsaitigen Bandura
durch die Dörfer ging und von dem großen Ruhm der Kosaken, von
ihrer Tapferkeit und Treue, von ihren Hetmans Kirdjaga, Kukubenko,
Bulba und anderen Helden sang, so daß alle es gerne hörten. Ostap
verneigte sich dreimal tief in der Richtung, in der er das
Heiligenbild vermutete (und es war die Znamenskaja, zu der er sich
so, unbewußt, wandte), setzte sich dann an den Ofen und fragte mit
leiser Stimme: ›Bei wem bin ich eigentlich?‹ ›Bei uns,
Väterchen, bei Peter Akimowitsch, dem Schuster,‹ erwiderte Peter
freundlich. Er war ein Freund des Gesanges und freute sich dieses
unerwarteten Besuches. ›Ah, bei Peter Akimowitsch, dem, der die
Bilder malt,‹ sagte der Blinde, um auch eine Freundlichkeit zu
erweisen. Dann wurde es still. In den langen sechs Saiten der Bandura
begann ein Klang, wuchs und kam kurz und gleichsam erschöpft von den
sechs kurzen Saiten zurück, und diese Wirkung wiederholte sich in
immer rascheren Takten, so daß man endlich die Augen schließen
mußte, in Angst, den Ton von der in rasendem Lauf erstiegenen
Melodie irgendwo hinabstürzen zu sehen; da brach das Lied ab und gab
der schönen, schweren Stimme des Kobzars Raum, welche bald das ganze
Haus erfüllte und auch aus den benachbarten Hütten die Leute rief,
die sich vor der Türe und unter den Fenstern versammelten. Aber
nicht von Helden ging diesmal das Lied. Schon ganz sicher schien
Bulbas und Ostranitzas und Naliwaikos Ruhm. Für alle Zeiten fest
schien die Treue der Kosaken. Nicht von ihren Taten ging heute das
Lied. Tiefer zu schlafen schien in allen, welche es vernahmen, der
Tanz; denn keiner rührte die Beine oder hob die Hände empor. Wie
Ostaps Kopf, so waren auch die anderen Köpfe gesenkt und wurden
schwer von dem traurigen Lied:

»Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt. Die Gerechtigkeit,
wer kann sie finden? Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt;
denn alle Gerechtigkeit ist den Gesetzen der Ungerechtigkeit
unterstellt.

»Heut ist die Gerechtigkeit elend in Fesseln. Und das Unrecht
lacht über sie, wir sahns, und sitzt mit den Pans in den goldenen
Sesseln und sitzt in dem goldenen Saal mit den Pans.

»Die Gerechtigkeit liegt an der Schwelle und fleht; bei den Pans
ist das Unrecht, das Schlechte, zu Gast, und sie laden es lachend in
ihren Palast, und sie schenken dem Unrecht den Becher voll Met.

»O, Gerechtigkeit, Mütterchen, Mütterchen
mein, mit dem Fittich, der jenem des Adlers gleicht, es kommt
vielleicht noch ein Mann, der gerecht, der gerecht sein will, dann
helfe ihm Gott, Er vermag es allein, und macht dem Gerechten die Tage
leicht.«

Und die Köpfe hoben sich nur mühsam, und auf allen Stirnen stand
Schweigsamkeit; das erkannten auch die, welche reden wollten. Und
nach einer kleinen, ernsten Stille begann wieder das Spiel auf der
Bandura, diesmal schon besser verstanden von der immer wachsenden
Menge. Dreimal sang Ostap sein Lied von der Gerechtigkeit. Und es war
jedesmal ein anderes. War es zum erstenmal Klage, so erschien es bei
der Wiederholung Vorwurf, und endlich, da der Kobzar es zum
drittenmal mit hocherhobener Stirne wie eine Kette kurzer Befehle
rief, da brach ein wilder Zorn aus den zitternden Worten und erfaßte
alle und riß sie hin in eine breite und zugleich bange Begeisterung.

›Wo sammeln sich die Männer?‹ fragte
ein junger Bauer, als der Sänger sich erhob. Der Alte, der von allen
Bewegungen der Kosaken unterrichtet war, nannte einen nahen Ort.
Schnell zerstreuten sich die Männer, man hörte kurze Rufe, Waffen
rührten sich, und vor den Türen weinten die Weiber. Eine Stunde
später zog ein Trupp Bauern, bewaffnet, aus dem Dorfe gegen
Tschernigof zu. Peter hatte dem Kobzar ein Glas Most angeboten in der
Hoffnung, mehr von ihm zu erfahren. Der Alte saß, trank, gab aber
nur kurze Antworten auf die vielen Fragen des Schusters. Dann dankte
er und ging. Aljoscha führte den Blinden über die Schwelle. Als sie
draußen waren in der Nacht und allein, bat Aljoscha: ›Und dürfen
alle mitgehen in den Krieg?‹ ›Alle,‹ sagte der Alte und
verschwand rascher ausschreitend, als ob er sehend würde in der
Nacht.

Als alle schliefen, erhob sich Aljoscha vom
Ofen, wo er in den Kleidern gelegen hatte, nahm sein Gewehr und ging
hinaus. Draußen fühlte er sich mit einem Male umarmt und sanft aufs
Haar geküßt. Gleich darauf erkannte er im Mondlicht Akulina, die
eilig und trippelnd auf das Haus zulief. ›Mutter?!‹ staunte er,
und es wurde ihm ganz eigentümlich zumut. Er zögerte eine Weile.
Eine Tür ging irgendwo, und ein Hund heulte in der Nähe. Da warf
Aljoscha sein Gewehr über die Schulter und schritt stark aus, denn
er gedachte die Männer noch vor Morgen einzuholen. Im Hause aber
taten alle, als ob sie Aljoschas Fehlen nicht bemerkten. Nur als sie
sich wieder zu Tische setzten und Peter den leeren Platz gewahrte,
stand er noch einmal auf, ging in die Ecke und zündete eine Kerze an
vor der Znamenskaja. Eine ganz dünne Kerze. Die Häßliche zuckte
mit den Achseln.

Indessen ging Ostap, der blinde Greis, schon durch das nächste
Dorf und begann traurig und mit sanfter klagender Stimme den Gesang
von der Gerechtigkeit.«

Der Lahme wartete noch eine Weile. Dann sah er mich erstaunt an:
»Nun, weshalb schließen Sie nicht? Es ist doch wie in der
Geschichte vom Verrat. Dieser Alte war Gott.«

»O, und ich habe es nicht gewußt,« sagte ich erschauernd.




















Leserbrief zur Problematik des zugebauten Bonner Bahnhofsvorplatzes (2024)

Am 1. Januar 2023 schickte ich folgenden Leserebrief an die General-Anzeiger.

Update vom 11.01.2024

Heute wurde der Leserbrief im General-Anzeiger veröffentlicht — bis auf den eingeklammerten Hinweis auf den Verlag “Books on Demand, 2020” — unverändert. Durch die eingefügten Absätze ist der Text leserfreundlicher als meine ursprüngliche Fassung.

GA, 11.01.2024, S. 24

Leserbrief zur Krimi-Serie “Derrick” und zur Argumentation des ZDF

Diesen Leserbrief habe ich am 18.10.2023 an den General-Anzeiger geschickt. Sollte er veröffentlicht werden, werde ich ein entsprechendes Update anfügen.

Update vom 23.10.2023:

Heute erschien mein Leserbrief unverändert im GA (S. 22).

GA vom 23.10.2023, S. 22

Leserbrief zum Versuch, das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium (EMA) in Bonn umzubenennen (28.09.2023)

Dieser Leserbrief wurde am 28.09.2023 eingesandt. Er nimmt Bezug auf den am selben Tag veröffentlichten Bericht im GA. Ich gehe davon aus, dass er abgedruckt wird.

Update vom 2.10.2023

Im heutigen GA wurde 1 Leserbrief zum EMA abgedruckt (Ernst Moritz Arndt soll mit Alexander von Humboldt ausgetauscht werden, sehr originell ;).

Es sieht so aus, als würde nun mein Leserbrief unter den Tisch fallen, sei’s drum. Mal abwarten.

Update vom 5.10.2023

Der Leserbrief wurde heute abgedruckt — abgesehen von einer redaktionell plausiblen Kürzung am Anfang unverändert:

Leserbrief zur neuen Bonner Inszenierung von “Die Entführung aus dem Serail” (2023)

Den folgenden Leserbrief habe ich am 21.09.2023 an die Redaktion des GA geschickt. Mal sehen ob er veröffentlicht wird.

Leserbrief zur neuen Inszenierung von »Die Entführung aus dem Serail«

Am 17. September erlebte ich die Premiere dieser Mozart-Oper. Ich erinnere mich an eine Bonner Inszenierung vor vielen Jahren, die mich seinerzeit so begeisterte, dass ich mehrere Aufführungen besuchte. Leider wurden meine Erwartungen diesmal enttäuscht. Bizarr und willkürlich anmutende Einfälle der Regie sowie bedeutungsschwangere Zitate berühmter Autoren ergeben noch keine schlüssige Bereicherung des Singspiels. Sein Thema ist die befreiende Macht der Liebe, die äußere und innere Mauern überwinden kann und Versöhnung ermöglicht – zumindest auf der Bühne. Was sagen uns da baumelnde Penis-Attrappen oder ein naturalistisch nachgebildeter Schweinskopf, der auf der Seitenempore im Scheinwerferlicht zerlegt wird? Was macht ein Opernbesucher, der sich solchermaßen belehrt, aber von den pädagogischen Attacken der Regie wenig inspiriert fühlt? Die Antwort mag sich jeder selbst geben. Schade um die großartige Leistung der Musiker.

Prof. Heinz Schott, Bonn

Update vom 29.09.2023:

Der Leserbrief wurde wohl zu spät eingereicht, deshalb nicht abgedruckt, so meine Vermutung.

Leserbrief zum Melbbad – am 17.06.2023 an GA geschickt

Sollte der Leserbrief abgedruckt werden, werde ich davon berichten.

Update vom 26.6.2023:

Der Leserbrief wurde heute mit unwesentlichen Veränderungen (evtl. sogar Verbesserungen) abgedruckt. Warum man den “Prof.” wegließ, weiß ich nicht, sicher kein bewusster Affront.

Update vom 1.07.2023

Heute veröffentlichte der GA zum zweiten Mal meinen Leserbrief — in seiner (fast) ursprünglichen Fassung mit meinem Namen vorangestellten “Prof.”; auch diesmal ließ man die Anführungszeichen bei “Bürgerbeteiligung” und “direkte Demokratie” weg — das wäre vielleicht doch zu viel der Ironie gewesen …