Europa der Regionen — Bodenhaftung für die europäische Identität

 

Zu dieser Thematik siehe auch meine Ideenskizze in diesem Blog und mein Bericht über eine Vortragsreihe zum Thema: Das Rheinland — eine europäische Region in Deutschland” vom Wintersemester 1994/95.

Hier sei auf den sehr erhellenden Artikel von Josef Isensee hingewiesen — siehe auch Vorschau bei Google Books:

„Union – Nation – Region: eine schwierige Allianz“. In: Europa der Regionen. Hg. von Peter Hilpold, Walter Steinmair und Christoph Perathoner. Berlin; Heidelberg: Springer, 2016; S. 7-26.

Prof. Dr. Dres. h.c. Josef Isensee ist em. Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn.

 Der Schlussabsatz seines Artikels lautet:

„In den Regionen erlangt die Idee Europas Bodenhaftung. Hier wurzelt seine Vielgestalt, jener „unerschöpfliche Reichtum“[1], der sein Wesen ausmacht. Was das gigantische Organisationskonstrukt der Union von oben herab nicht schafft und nicht einfängt, das wächst dem alten Kontinent aus den Regionen von unten zu: europäische Identität.“

[1] Präambel Nr. 5 EVReg.

Anmerkung vom 9.02.2018:

Im Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) vom 4./5.11.2017 erschien ein interessanter Artikel unter dem Titel “Europa der Bürger und Regionen” von Holger Schmale. Er ist Journalist und Chefkorrespondent der DuMont Hauptstadtredaktion.

Aus Copyright-Gründen kann ich den Scan dieses Artikels hier leider nicht direkt wiedergeben. Es findet sich aber in der Frankfurter Rundschau vom 3.11.2017 ein Leitartikel desselben Autors unter der Überschrift “Europa der Regionen” mit demselben Text, hier der Link.

BREXIT, Boris Factor, and British idiosyncrasy

Der in der Endphase des Wahlkampfs entscheidende Brexit-Befürworter Boris Johnson veröffentliche 2014 sein Buch “The Churchill Factor”, eine höchst kenntnisreiche, unterhaltsame und empathisch verfasste Biografie des wichtigsten britischen Politikers des 20. Jahrhunderts. Dieses Buch ist eine intelligente Hommage an diese Jahrhundertgestalt — eine Liebeserklärung, die über deren Autor mindestens ebenso viel aussagt wie über sein Liebesobjekt. Man muss kein Psychoanalytiker sein um zu bemerken, wie sehr sich Boris mit Winston identifiziert, wie stark er seine Lebenskraft aus der von ihm so lebendig darstellten Gestalt bezieht, ja, wie diese mit ihm verschmilzt: Einerseits Winston gegen den Rest der Welt, vor allem aber gegen den übermächtig erscheinenden Feind, der den Kontinent weitgehend in seinem Würgegriff hat und auch Großbritannien (und den Rest der Welt) zu erobern sich anschickt; andererseits Boris gegen den Moloch der von den Deutschen dominierten EU, die sich anschickt, Großbritannien mit anderen Mitteln einzusacken. Für Boris Johnson ist der “Churchill Factor” der Beweis, dass ein einzelner, genialer Mensch — wenn auch unter schrecklichen Opfern — das Schicksal der Welt zum Guten wenden kann. Aus dieser sehr persönlichen Erkenntnis, seiner privaten Philosophie, speist sich sein Mut, seine Frechheit, seine überschäumende Rhetorik, seine viel kritisierte Unberechenbarkeit. So mag er sich denn als reinkarnierter Churchill vorkommen.

Anmerkung vom 7.07.2016:

Merkwürdigerweise scheint an Johnsons Churchill-Buch hierzulande kaum Interesse zu bestehen. Das einzige im Online-Katalog  der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn verzeichnete Exemplar (Freihandbibliothek) betrifft die deutsche Übersetzung von 2015. Das Buch war ausleihbar, sodass ich es mir direkt mitnehmen konnte. Auch Wochen später gibt es keine weiteren Vormerkungen für dieses Buch. Die englische Originalausgabe ist in Bonn nicht erhältlich. Ich habe sie mir per Fernleihe jetzt bestellt. Ist das nicht erstaunlich? Zigtausende Studenten, Hunderte Professoren, einschlägige Disziplinen und Institute (man denke Politik- und Geschichtswissenschaft) — und offensichtlich kein Nachfrage nach dieser aktuellen Publikation, zumindest nicht in Bonn, dem Ort, an dem die demokratische Grundordnung nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde.   

Wenn vor allem deutsche Kommentatoren Boris Johnson und David Cameron als verzogen Elitesöhnchen darstellen, die mit ihren törichten Lausbubenstreichen die geordnete Welt Großbritanniens und der EU aufs Spiel setzen, unterschätzen sie die Langzeitwirkungen der Geschichte, die kollektiven postraumatischen Belastungsstörungen im Seelenleben der Völker. Der Wunsch, die unbotmäßigen Briten zu bestrafen, wird allenthalben auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland geäußert und auf Talkshows laut beklatscht. Dabei vergisst man offenbar einige schlichte Tatsachen: dass die Briten seit unvorstellbar langen Zeiten keine Besatzung durch fremde Truppen erlebt haben, dass sie zu den Siegermächten in zwei Weltkriegen gehörten und dass sie angesichts der ungeheuren Bedrohung durch Nazi-Deutschland (dank Churchill) standhielten, ihre Demokratie bewahrten und frei von Antisemitismus blieben. So konnte Sigmund Freud als willkommener und verehrter Emigrant seine letzte Lebenszeit in London verbringen, während sich im Großdeutschen Reich die Vernichtungsaktionen der Nazis abzeichneten, denen vier seiner fünf Schwestern zum Opfer fielen.

Die alten Geschichten kommen in Krisenzeiten wieder hoch, nicht nur auf dem Balkan, in der Ukraine, in Griechenland. Auch in Großbritannien, wobei Schottland noch eine eigene Rechnung mit England zu begleichen hat. Niemand sollte über Boris Johnson lachen, wenn er die zwangsweise Vereinigung von Europa scharf kritisiert und Napoleon, Hitler und die EU in einem Atemzug nennt — einerseits ein Unding, weil sich die drei historischen Episoden grundsätzlich voneinander unterscheiden; andererseits eine erschreckende Offenbarung der vermeintlichen oder realen politischen Notlage.

Neuerdings höre ich regelmäßig die Nachrichten des BBC anstelle des Deutschlandfunks. Es ist jener “Feindsender”, den mein Großvater Georg Geilert während des Zweiten Weltkriegs heimlich abhörte und deshalb besser über den Vormarsch der Alliierten informiert war als seine Umgebung. Er konnte sehr gut Englisch, weil er den Ersten Weltkrieg in einem englischen Internierungslager auf der Isle of Man überlebt hatte. Angeblich kam er bei Kriegsausbruch zur Abfahrt des letzten Dampfers in die Heimat zu spät und wurde von den Engländern interniert. Die Eltern mussten von Deutschland aus die Internierungskosten bezahlen, was sie vermutlich gerne taten. Er konnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs übrigens seine Sprachkenntnisse als Dolmetscher im Amerikanischen Hauptquartier gut gebrauchen! Solche Erinnerungen werden heute wach. Alles, was einmal geschehen ist, lebt weiter und taucht, wenn es gereizt wird, wieder an der Oberfläche des Bewusstseins auf.

Im übrigen bin ich für ein “Europa der Regionen” — weder Berlin, noch Brüssel (und auch nicht London) sollten zentralistisch herrschen. 

Anmerkung vom 23.03.2017

Anlässlich des heutigen islamistischen Anschlags in London siehe meinen Blog-Beitrag im Hinblick auf Boris Johnson.

Next Europe — In search of its narrative (2016)

Die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) veröffentlichte kürzlich ihr Positionspapier “NEXT EUROPE” und dazu die Kommentare von Mitgliedern, die auf ihre Rundfrage geantwortet hatten. 

Die Texte sind über die Homepage der Akademie leicht zugänglich (Rubrik: Next Europe).

Anmerkung vom 20.10.2020:

Da ich die Sammlung der Kommentare von 66 Mitgliedern nicht mehr im Internet finden kann, möchte ich sie hier zugänglich machen.

Auch mein Kommentar wurde publiziert, den ich bereits als Beitrag in diesem Blog veröffentlicht habe. 

Hier noch einmal mein Text, wie er im Papier der Europäischen Akademie (Kommentare, S. 111) wiedergegeben wird.

Anmerkung vom 29.07.2016:

Siehe auch den Blogbeitrag “Europa der Regionen” mit dem Hinweis auf einen neuen Artikel von Josef Isensee.

Anmerkung vom 8.11.2016

Die Salzburger Nachrichten berichteten am 29. Oktober 2016 von einer Auftaktveranstaltung zum Akademie-Projekt “Next Europe”. Daraus kann man schließen, dass die oben erwähnten gesammelten Kommentare von Akademiemitgliedern bei dieser Veranstaltung explizit keine Rolle spielten.

Europe of the Regions — Europa der Regionen: The necessary turn

Kürzlich erhob eine akademische Kultureinrichtung angesichts der gegenwärtigen Erschütterungen der europäischen Integration eine Umfrage. Man sollte mitteilen, wie man sich “Next Europe” vorstelle. Hier meine Antwort:

Europe has to be fundamentally reorganized − spiritually, culturally, economically, and politically. Without such a turn Europe will fail and its effective structure will collapse.
Considering the future of Europe there are five essentials absolutely necessary to overcome the actual troubles:
(1) Democracy: Citizens’ participation in political decision making.
(2) Welfare: Social security and humanitarian standards for everybody; the fight against poverty as a general social task.
(3) Education: An efficient education system as the main pre-condition for Democracy and Welfare and vice versa.
(4) Regionalism: The European regions should become the main layer of European policies constituting a profound federalism respecting the rights of minorities.
(5) Subsidiarity: The principle of subsidiarity should become the main guideline for European policies.

All dogmatic ideologies or illusions about Europe, such as

– the idea of the centralized “United States of Europe”
– a currency union with quite unequal social systems
– borders without controlling (Schengen) in a situation, when organized criminality blossoms; etc.

should be abandoned.

Europe will flourish, when its complex history and the cultural diversity of its regions are respected and brought together in a creative, cooperative, and peaceful way.

“Next Europe” should become a “EUROPE OF THE REGIONS”.
Ich plädiere für ein “EUROPA DER REGIONEN”.

Anmerkung vom 12.05.2016:

Die betreffende Stellungnahme wurde inzwischen im Rahmen einer umfangreicheren Dokumentation von der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (Salzburg) veröffentlicht. Siehe hierzu meinen Beitrag in diesem Blog.