“Brexit : Die Briten unterschätzen den Wert der EU” — Mein Leserbrief zu einem Kommentar in der FAZ (2019)

Der betreffende Kommentar von Marcus Theurer (London) wurde am 9.07.2019 in der FAZ veröffentlicht. Der Vorspann lautet: 

“Großbritannien ist zu klein, um seine Interessen in der Welt allein zu vertreten. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Chancen der europäischen Einigung übersehen. Wiederholt sich die Geschichte?”

Ich habe daraufhin am 10.07.2019 folgenden Leserbrief an die FAZ gesandt, es dürfte schon aus statistischen Gründen unwahrscheinlich sein, dass er abgedruckt wird. Aber durch die Veröffentlichung auf meinem Blog geht er wenigstens nicht verloren.

Leserbrief

Es erstaunt mich immer wieder, wie einseitig in deutschen Leitmedien der Brexit bewertet wird: nämlich als rückwärtsgewandte, selbstzerstörerische und irrationale Bestrebung der Briten, die das Vereinigte Königreich ins politische Chaos und wirtschaftlichen Desaster führe. In dieses Horn stößt auch der Londoner FAZ-Korrespondent Marcus Theurer mit seiner Feststellung, dass Großbritannien „die Chancen und den Wert der europäischen Einigung“ – nach dem verzögerten Beitritt zur EWG – nun zum zweiten Mal unterschätze. Man kann aber die jetzige renitente Haltung auch anders interpretieren: Die meisten Briten möchten nicht von Instanzen regiert werden, die sie weder gewählt hat, noch die sie abwählen können; sie möchten keine ungesteuerte Migration mit ihren sozialen und kulturellen Verwerfungen; sie sehen in der Währungsunion ein risikoreiches Experiment mit enormer Sprengkraft – und vor allem möchten sie nicht auf ihre stolze Tradition der nationalen Unabhängigkeit verzichten. So könnte man eher die umgekehrte Frage stellen: Unterschätzen die deutschen (und europäischen) Eliten nicht die Briten, die den totalitären Abwegen des 20. Jahrhunderts erfolgreich widerstanden, die sich keiner Fremdherrschaft beugen mussten und niemals ihre demokratische Kultur zur Disposition stellten? Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Brexit-Entscheidung keineswegs als irrationaler Akt, sondern eher als Zurückziehen von einem Projekt, das ihnen in seiner mehr oder weniger offenen Zielsetzung, die Nationalstaaten in einem Bundesstaat aufgehen zu lassen, höchst suspekt ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Briten den „richtigen Riecher“ hatten.

Prof. Dr. Dr. Heinz Schott, Bonn

Anmerkung vom 4.08.2019

Dieser Leserbrief wurde bislang nicht veröffentlich, was rein statistisch gesehen nicht verwundert. 

 

 

Darkest Hour — Ein höchst aktueller Film (2018)

Der englische Spielfilm Darkest Hour (2017) kam Anfang 2018 unter dem Titel Die dunkelste Stunde in die Kinos. Ich habe ihn mir gestern im WOKI Kino in Bonn angesehen (Gott sei Dank OmU). Ein eindrucksvoller, spannender Film, der einen Winston Churchill mit all seinen menschlichen und unmenschlich erscheinenden Zügen und Nöten zeigt, großartig dargestellt von Gary Oldman. Dieser Film thematisiert Schicksalsstunden und -tage der Menschheitsgeschichte, in der Art, wie Stefan Zweig sie in “Sternstunden der Menschheit” meisterlich beschrieben hat. Ich wurde an die klassische Churchill-Darstellung von Sebastian Haffner, aber vor allem an Boris Johnson’s “The Churchill Factor” erinnert. Letztere Schrift ist ein Schlüsseltext, um die Brexit-Entscheidung der Briten und insbesondere deren Wortführer zu verstehen.

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Meine Eintrittskarte — recht preiswert

Boris Johnson identifiziert sich überaus stark mit Churchill und sieht die EU ein weiteres historisches Beispiel für das Scheitern von Versuchen, Europa  unter einer autoritären Zentralgewalt zu vereinigen (er nannte hier einmal Napoleon, Hitler und die Sowjetunion in einem Atemzug!). Zu Boris Johnson, über den in Deutschland viel gelästert, aber wenig gewusst wird, siehe die Blog-Beiträge hier und  hier

Freedom, Democracy, Sovereignty — Fremdwörter für die Deutschen ?

In der britischen Nach-Brexit-Debatte leistet man sich im immer noch Vereinigten Königreich erstaunliche Freiheiten. Wer diesen Diskurs mit “Rosinenpickerei”, “Nörgelei”, “Extrawürsten” oder “Lausbubereien” verzogener Elitesöhnchen etikettiert, wie das die deutschen Meinungsführer fast unisono tun, ist taub für die Kernbotschaft: freedom, democray, sovereignty.

Was hat uns die Anwärterin Andrea Leadsom in ihrer programmatischen Bewerbungsrede mitzuteilen? Genau diese Kernbotschaft! Und so trägt diese selbstbewusst und voller Stolz vor: Wir, die Briten, haben die älteste Demokratie, das älteste Parlament der Welt. Wir werden uns keiner fremden Macht unterordnen. Es geht nicht um eine Herrschaft der Reichen, sondern um das Erringen einer “social justice”. Man kann sich die beeindruckende Rede auf Youtube anhören.

Boris Johnson unterstützt Leadsoms Kandidatur. Dieser Boris Factor (wie ich ihn nennen möchte) wird sich bei der endgültigen Abstimmung der Parteimitglieder bemerkbar machen. Es geht eben nicht nur ums Geschäft, um Handelsbilanzen und Migrationsbeschränkungen. Es geht um den politischen Kernbestand westlicher Kultur: Freiheit, Demokratie, Souveränität — und Wohlstand für alle, wie es Ludwig Erhard einmal formuliert hat.

Wer die öffentliche Debatte in Deutschland verfolgt, vermisst schmerzlich diesen Aufruf, für Freiheit, Demokratie und Souveränität zu kämpfen. Die Meinungsführer glauben oder suggerieren, dass diese ja in der EU bereits bestens aufgehoben seien — mehr noch, dass wer diese auf nationaler Ebene einfordere, “Nationalismus” und “Fremdenfeindlichkeit” fördere und ein (Rechts)Populist sei. Wer die politische Diskussionskultur in Deutschland beobachtet, wird vergeblich nach einer solchen suchen. Es mangelt an einigen Grundvoraussetzungen als da sind: rhetorische Kunst, geistige Freiheit, intellektuelle Offenheit und nüchterner Pragmatismus — eben eine Begeisterungsfähigkeit für freedom, democracy, sovereignty.

Anmerkung vom 9.07.2016

Wie man den jüngsten Äußerungen des Bundestagspräsidenten entnehmen kann, soll die hohe Politik bei nationalen Grundsatzfragen nicht das Volk  entscheiden lassen, sondern für das Volk entscheiden. 

 

 

 

BREXIT, Boris Factor, and British idiosyncrasy

Der in der Endphase des Wahlkampfs entscheidende Brexit-Befürworter Boris Johnson veröffentliche 2014 sein Buch “The Churchill Factor”, eine höchst kenntnisreiche, unterhaltsame und empathisch verfasste Biografie des wichtigsten britischen Politikers des 20. Jahrhunderts. Dieses Buch ist eine intelligente Hommage an diese Jahrhundertgestalt — eine Liebeserklärung, die über deren Autor mindestens ebenso viel aussagt wie über sein Liebesobjekt. Man muss kein Psychoanalytiker sein um zu bemerken, wie sehr sich Boris mit Winston identifiziert, wie stark er seine Lebenskraft aus der von ihm so lebendig darstellten Gestalt bezieht, ja, wie diese mit ihm verschmilzt: Einerseits Winston gegen den Rest der Welt, vor allem aber gegen den übermächtig erscheinenden Feind, der den Kontinent weitgehend in seinem Würgegriff hat und auch Großbritannien (und den Rest der Welt) zu erobern sich anschickt; andererseits Boris gegen den Moloch der von den Deutschen dominierten EU, die sich anschickt, Großbritannien mit anderen Mitteln einzusacken. Für Boris Johnson ist der “Churchill Factor” der Beweis, dass ein einzelner, genialer Mensch — wenn auch unter schrecklichen Opfern — das Schicksal der Welt zum Guten wenden kann. Aus dieser sehr persönlichen Erkenntnis, seiner privaten Philosophie, speist sich sein Mut, seine Frechheit, seine überschäumende Rhetorik, seine viel kritisierte Unberechenbarkeit. So mag er sich denn als reinkarnierter Churchill vorkommen.

Anmerkung vom 7.07.2016:

Merkwürdigerweise scheint an Johnsons Churchill-Buch hierzulande kaum Interesse zu bestehen. Das einzige im Online-Katalog  der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn verzeichnete Exemplar (Freihandbibliothek) betrifft die deutsche Übersetzung von 2015. Das Buch war ausleihbar, sodass ich es mir direkt mitnehmen konnte. Auch Wochen später gibt es keine weiteren Vormerkungen für dieses Buch. Die englische Originalausgabe ist in Bonn nicht erhältlich. Ich habe sie mir per Fernleihe jetzt bestellt. Ist das nicht erstaunlich? Zigtausende Studenten, Hunderte Professoren, einschlägige Disziplinen und Institute (man denke Politik- und Geschichtswissenschaft) — und offensichtlich kein Nachfrage nach dieser aktuellen Publikation, zumindest nicht in Bonn, dem Ort, an dem die demokratische Grundordnung nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde.   

Wenn vor allem deutsche Kommentatoren Boris Johnson und David Cameron als verzogen Elitesöhnchen darstellen, die mit ihren törichten Lausbubenstreichen die geordnete Welt Großbritanniens und der EU aufs Spiel setzen, unterschätzen sie die Langzeitwirkungen der Geschichte, die kollektiven postraumatischen Belastungsstörungen im Seelenleben der Völker. Der Wunsch, die unbotmäßigen Briten zu bestrafen, wird allenthalben auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland geäußert und auf Talkshows laut beklatscht. Dabei vergisst man offenbar einige schlichte Tatsachen: dass die Briten seit unvorstellbar langen Zeiten keine Besatzung durch fremde Truppen erlebt haben, dass sie zu den Siegermächten in zwei Weltkriegen gehörten und dass sie angesichts der ungeheuren Bedrohung durch Nazi-Deutschland (dank Churchill) standhielten, ihre Demokratie bewahrten und frei von Antisemitismus blieben. So konnte Sigmund Freud als willkommener und verehrter Emigrant seine letzte Lebenszeit in London verbringen, während sich im Großdeutschen Reich die Vernichtungsaktionen der Nazis abzeichneten, denen vier seiner fünf Schwestern zum Opfer fielen.

Die alten Geschichten kommen in Krisenzeiten wieder hoch, nicht nur auf dem Balkan, in der Ukraine, in Griechenland. Auch in Großbritannien, wobei Schottland noch eine eigene Rechnung mit England zu begleichen hat. Niemand sollte über Boris Johnson lachen, wenn er die zwangsweise Vereinigung von Europa scharf kritisiert und Napoleon, Hitler und die EU in einem Atemzug nennt — einerseits ein Unding, weil sich die drei historischen Episoden grundsätzlich voneinander unterscheiden; andererseits eine erschreckende Offenbarung der vermeintlichen oder realen politischen Notlage.

Neuerdings höre ich regelmäßig die Nachrichten des BBC anstelle des Deutschlandfunks. Es ist jener “Feindsender”, den mein Großvater Georg Geilert während des Zweiten Weltkriegs heimlich abhörte und deshalb besser über den Vormarsch der Alliierten informiert war als seine Umgebung. Er konnte sehr gut Englisch, weil er den Ersten Weltkrieg in einem englischen Internierungslager auf der Isle of Man überlebt hatte. Angeblich kam er bei Kriegsausbruch zur Abfahrt des letzten Dampfers in die Heimat zu spät und wurde von den Engländern interniert. Die Eltern mussten von Deutschland aus die Internierungskosten bezahlen, was sie vermutlich gerne taten. Er konnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs übrigens seine Sprachkenntnisse als Dolmetscher im Amerikanischen Hauptquartier gut gebrauchen! Solche Erinnerungen werden heute wach. Alles, was einmal geschehen ist, lebt weiter und taucht, wenn es gereizt wird, wieder an der Oberfläche des Bewusstseins auf.

Im übrigen bin ich für ein “Europa der Regionen” — weder Berlin, noch Brüssel (und auch nicht London) sollten zentralistisch herrschen. 

Anmerkung vom 23.03.2017

Anlässlich des heutigen islamistischen Anschlags in London siehe meinen Blog-Beitrag im Hinblick auf Boris Johnson.