Der in der Endphase des Wahlkampfs entscheidende Brexit-Befürworter Boris Johnson veröffentliche 2014 sein Buch “The Churchill Factor”, eine höchst kenntnisreiche, unterhaltsame und empathisch verfasste Biografie des wichtigsten britischen Politikers des 20. Jahrhunderts. Dieses Buch ist eine intelligente Hommage an diese Jahrhundertgestalt — eine Liebeserklärung, die über deren Autor mindestens ebenso viel aussagt wie über sein Liebesobjekt. Man muss kein Psychoanalytiker sein um zu bemerken, wie sehr sich Boris mit Winston identifiziert, wie stark er seine Lebenskraft aus der von ihm so lebendig darstellten Gestalt bezieht, ja, wie diese mit ihm verschmilzt: Einerseits Winston gegen den Rest der Welt, vor allem aber gegen den übermächtig erscheinenden Feind, der den Kontinent weitgehend in seinem Würgegriff hat und auch Großbritannien (und den Rest der Welt) zu erobern sich anschickt; andererseits Boris gegen den Moloch der von den Deutschen dominierten EU, die sich anschickt, Großbritannien mit anderen Mitteln einzusacken. Für Boris Johnson ist der “Churchill Factor” der Beweis, dass ein einzelner, genialer Mensch — wenn auch unter schrecklichen Opfern — das Schicksal der Welt zum Guten wenden kann. Aus dieser sehr persönlichen Erkenntnis, seiner privaten Philosophie, speist sich sein Mut, seine Frechheit, seine überschäumende Rhetorik, seine viel kritisierte Unberechenbarkeit. So mag er sich denn als reinkarnierter Churchill vorkommen.
Anmerkung vom 7.07.2016:
Merkwürdigerweise scheint an Johnsons Churchill-Buch hierzulande kaum Interesse zu bestehen. Das einzige im Online-Katalog der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn verzeichnete Exemplar (Freihandbibliothek) betrifft die deutsche Übersetzung von 2015. Das Buch war ausleihbar, sodass ich es mir direkt mitnehmen konnte. Auch Wochen später gibt es keine weiteren Vormerkungen für dieses Buch. Die englische Originalausgabe ist in Bonn nicht erhältlich. Ich habe sie mir per Fernleihe jetzt bestellt. Ist das nicht erstaunlich? Zigtausende Studenten, Hunderte Professoren, einschlägige Disziplinen und Institute (man denke Politik- und Geschichtswissenschaft) — und offensichtlich kein Nachfrage nach dieser aktuellen Publikation, zumindest nicht in Bonn, dem Ort, an dem die demokratische Grundordnung nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde.
Wenn vor allem deutsche Kommentatoren Boris Johnson und David Cameron als verzogen Elitesöhnchen darstellen, die mit ihren törichten Lausbubenstreichen die geordnete Welt Großbritanniens und der EU aufs Spiel setzen, unterschätzen sie die Langzeitwirkungen der Geschichte, die kollektiven postraumatischen Belastungsstörungen im Seelenleben der Völker. Der Wunsch, die unbotmäßigen Briten zu bestrafen, wird allenthalben auf dem Kontinent und insbesondere in Deutschland geäußert und auf Talkshows laut beklatscht. Dabei vergisst man offenbar einige schlichte Tatsachen: dass die Briten seit unvorstellbar langen Zeiten keine Besatzung durch fremde Truppen erlebt haben, dass sie zu den Siegermächten in zwei Weltkriegen gehörten und dass sie angesichts der ungeheuren Bedrohung durch Nazi-Deutschland (dank Churchill) standhielten, ihre Demokratie bewahrten und frei von Antisemitismus blieben. So konnte Sigmund Freud als willkommener und verehrter Emigrant seine letzte Lebenszeit in London verbringen, während sich im Großdeutschen Reich die Vernichtungsaktionen der Nazis abzeichneten, denen vier seiner fünf Schwestern zum Opfer fielen.
Die alten Geschichten kommen in Krisenzeiten wieder hoch, nicht nur auf dem Balkan, in der Ukraine, in Griechenland. Auch in Großbritannien, wobei Schottland noch eine eigene Rechnung mit England zu begleichen hat. Niemand sollte über Boris Johnson lachen, wenn er die zwangsweise Vereinigung von Europa scharf kritisiert und Napoleon, Hitler und die EU in einem Atemzug nennt — einerseits ein Unding, weil sich die drei historischen Episoden grundsätzlich voneinander unterscheiden; andererseits eine erschreckende Offenbarung der vermeintlichen oder realen politischen Notlage.
Neuerdings höre ich regelmäßig die Nachrichten des BBC anstelle des Deutschlandfunks. Es ist jener “Feindsender”, den mein Großvater Georg Geilert während des Zweiten Weltkriegs heimlich abhörte und deshalb besser über den Vormarsch der Alliierten informiert war als seine Umgebung. Er konnte sehr gut Englisch, weil er den Ersten Weltkrieg in einem englischen Internierungslager auf der Isle of Man überlebt hatte. Angeblich kam er bei Kriegsausbruch zur Abfahrt des letzten Dampfers in die Heimat zu spät und wurde von den Engländern interniert. Die Eltern mussten von Deutschland aus die Internierungskosten bezahlen, was sie vermutlich gerne taten. Er konnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs übrigens seine Sprachkenntnisse als Dolmetscher im Amerikanischen Hauptquartier gut gebrauchen! Solche Erinnerungen werden heute wach. Alles, was einmal geschehen ist, lebt weiter und taucht, wenn es gereizt wird, wieder an der Oberfläche des Bewusstseins auf.
Im übrigen bin ich für ein “Europa der Regionen” — weder Berlin, noch Brüssel (und auch nicht London) sollten zentralistisch herrschen.
Anmerkung vom 23.03.2017
Anlässlich des heutigen islamistischen Anschlags in London siehe meinen Blog-Beitrag im Hinblick auf Boris Johnson.